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In Zukunft zirkulär

In Zukunft zirkulär

Am Bestand weiterbauen statt abreissen: So lautet ein Konzept der Kreislaufwirtschaft. Bild: TO

Das Thema Kreislaufwirtschaft ist in Architekturkreisen aktuell. Woher kommt das Interesse? Barbara Sintzel: Man muss sich folgende Zahlen des Bundesamts für Umwelt vergegenwärtigen: Die Schweiz produziert pro Jahr 80 bis 90 Mio. t Abfall. Davon gehen 84% allein auf die Bautätigkeit zurück. 57 Mio. t sind Aushub- und Ausbruchmaterial. Rund 17 Mio. t fallen bei Rückbauten an. Gleichzeitig verbauen wir in der Schweiz 63 Mio. t Neumaterial. Pro Person und Jahr gerechnet sind das fast 8 t Material. Der Ressourcenverbrauch und die Emissionen in der Bauwirtschaft sind hoch.

Bauwirtschaft: Kreislaufwirtschaft ist ein Schlüssel für umwelt- und ressourcenschonenderes Bauen, sagt Barbara Sintzel, Leiterin Institut Nachhaltigkeit und Energie am Bau der FHNW in Muttenz.

Greifen Materialtrennung und Recycling zu kurz?

Nur etwa 70% der 17 Mio. t Rückbaumaterialien gelangen ins Recycling. Über 5 Mio. t landen auf einer Deponie oder in der Kehrichtverbrennung. Namentlich die Labels wie Minergie-Eco oder SNBS (Red.: Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz) haben viel getan, damit zum Beispiel Beton rezykliert und wiederverwendet wird. Doch die grösste Hebelwirkung beim Sparen von Energie und Ressourcen hat erstens das Weiterbauen am Bestand und zweitens die direkte Mehrfachverwendung von Bauteilen.

Also sollte man am Bestand weiterbauen statt abreissen?

Diese Option sollte zumindest mit aller Sorgfalt geprüft werden. Man darf nicht vergessen: Der weitaus grösste Energieaufwand fällt im Zusammenhang mit der Erstellung eines Neubaus an. Heute werden Büros, Industriegebäude oder Wohnhäuser nicht selten rückgebaut, bevor sie am Ende ihres Lebenszyklus angelangt sind. Ein Gebäude aus den 1980er-Jahren ist noch nicht reif für die Abrissbirne. Stattdessen sollte man sich fragen: Wie kann man die Lebensdauer eines Gebäudes um nochmals 30 bis 60 Jahren verlängern, mit möglichst wenig Material und wenig Impact auf die Umwelt?

In Zukunft zirkulär-2

"Der weitaus grösste Energieaufwand fällt im Zusammenhang mit der Erstellung eines Neubaus an."

Barbara Sintzel
Leiterin Institut Nachhaltigkeit und Energie am Bau, FHNW Muttenz

Wie könnte das konkret aussehen?

Nehmen wir ein Mehrfamilienhaus aus den 1970ern in städtischer Umgebung. Es wäre zu prüfen, ob dieses Wohngebäude saniert und eventuell sogar aufgestockt werden könnte. Der Vorteil von verdichteter Weiternutzung ist, dass gewachsene Quartierstrukturen mit Grünraum nicht zerstört, sondern neu belebt werden. Die bestehende Bewohnerschaft durchmischt sich mit Neuzuzügern.

Und wenn kein Weiterbauen am Bestand möglich ist?

Viele Bauteile sind beim Rückbau eines Gebäudes noch nicht am Ende ihres Lebenszyklus. Diese sollten deshalb in einen Materialkreislauf gelangen, wo sie zwei- oder mehrfach wiedergenutzt werden können. Gut erhaltene Fenster, Holzbodenbeläge, Solarpanels und und und. Sie eins zu eins wiederzuverwenden, spart mehr Ressourcen und Energie als jegliches Re- oder Downcycling. Die Schweiz leistet diesbezüglich bereits heute tolle Pionierarbeit, aber es gibt noch viel Potenzial.

Lohnen sich Wiederverwendungen? Baumaterialien sind günstig.

Das ist das Absurde. Das Material ist so günstig und die Löhne so hoch, dass sich der Mehraufwand meistens nicht lohnt. Dämmt jemand sein Hausdach, könnte er oder sie eigentlich die Ziegel vorsichtig abmontieren und einzig die defekten ersetzen. Stattdessen kommt es günstiger, die Ziegel durch die Bauschuttrutsche in die Mulde zu kippen und fabrikneue zu bestellen.

"Viele Bauteile sind beim Rückbau eines Gebäudes noch nicht am Ende ihres Lebenszyklus."

Also hat es der Materialkreislauf schwer, im Markt zu bestehen.

Da die Bauteil-Wiederverwendung in vielen Fällen nicht konkurrenzfähig ist, wird es nicht ohne Förderung gehen. Wir stehen am Anfang einer Entwicklung und eines Umdenkens, und es liegt viel Arbeit vor uns. In den nächsten Jahren wird sich allerdings einiges in Richtung Kreislaufwirtschaft bewegen. Davon bin ich überzeugt.

Welche Entwicklungen sehen Sie kommen?

Zum einen wird der Bauteilmarkt vernetzter. Es entsteht langsam auch wieder eine Reparaturwirtschaft. Eine weitere, tiefergreifende Lösung ist, Bauteile und Konstruktionsweisen von Anfang an kreislauffähig zu gestalten. Es gibt bereits heute Systeme, Backsteine ohne Mörtel zu verbinden. Oder es werden keine Leitungen mehr in die tragende Substanz eingelegt, die ja eine längere Lebensdauer hat. All diese Verfahren erleichtern später das Auseinandernehmen, das sortenreine Trennen und das Wiederverwenden. Die Empa arbeitet an solchen Lösungen (Red.: siehe Beitrag nebenan). Auch hier stehen wir zwar erst am Anfang einer Entwicklung, aber der Stein ist am Rollen.

Zurück zum Thema Wiederverwenden: Der Eichenholz-Riemenboden ist chic. Wie sieht es mit dem beigen Badezimmer-Lavabo von 1980 aus?

Sicher hat es das liebevoll gestaltete Jugendstil-Lavabo auf dem Markt einfacher als das Modell von 1980, das gerade aus der Mode, aber eigentlich immer noch intakt ist. Jede Epoche hat ihre Designs. Wenn man das anerkennt, haben auch die braun-orangen Plättli aus den 1970ern ihre Daseinsberechtigung. Eine Innenarchitektur, die Neues und Vergangenes gekonnt in Verbindung bringt, ist doch cool. Ich stelle jedenfalls fest, wie Designer und Architekten immer mehr damit anfangen, mit dem Bestand zu spielen und nicht einfach alles wegzuräumen.

Mein Haus ist 15-jährig. Ich habe nichts zu renovieren noch etwas Neues zu bauen. Geht mich Kreislaufwirtschaft etwas an?

Sie sind gut beraten, wenn Sie Unterhaltsarbeiten nicht vernachlässigen. Sonst leidet mit der Zeit die Gebäudesubstanz. Alles, was Schaden nehmen kann, braucht Wartung. Holzfensterrahmen müssen gepflegt und Flachdächer kontrolliert werden: Sind alle Dichtungen noch gut? Wachsen Bäume ein? Eigentlich sollten Architekten bei der Übergabe immer auch einen Unterhaltsplan mitgeben. Interview: Tiziana Ossola

Zur Person: Prof. Barbara Sintzel leitet seit Januar 2021 das Institut Nachhaltigkeit und Energie am Bau an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Sie ist diplomierte Umweltnaturwissenschaftlerin ETH mit einem Executive Master of Business Administration. Sie war bis Ende 2020 Geschäftsführerin des Vereins Eco-Bau, einem Zusammenschluss aus Bauämtern von Bund, Kantonen und Städten, Bildungsinstitutionen und Organisationen. Seit 2015 ist Sintzel Präsidentin der Kommission für Nachhaltigkeit und Umwelt des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA.