Früher prahlten Hersteller von Premium- und Luxusautos gerne damit, wie viele Kühe ihr Leben für das noble Lederinterieur lassen mussten. Heute brüsten sie sich mit veganen Lederimitaten, Treibholz-Zierleisten oder Kunststoffen aus Algen. Die Zeitspanne dazwischen beträgt nur wenige Jahre – doch während dieser Zeit hat sich die Einstellung der Kunden und damit auch der Hersteller zu nachhaltigen Materialien frappant verändert. Denn für die Reduktion des Treibhausgases Kohlenstoffdioxid (CO2) zählt jedes Detail. Professor Werner Olle vom Chemnitzer Automotive Institut geht davon aus, dass es künftig Vorgaben geben wird, wie hoch der Anteil von nachhaltigen Rohstoffen in Neuwagen sein müsse. Heute liege der Anteil im Schnitt bei knapp zehn Prozent.
Schwemmholz, Eukalyptus und geschredderte PET-Flaschen: Die Autohersteller setzen verstärkt auf alternative Materialien.
Fisker war der Zeit voraus
Grosse Hersteller wie Toyota, VW oder BMW verbauen seit längerem nachhaltige Materialien in ihren Autos. Nicht sichtbare Teile wie Dämmmaterialien oder Sitzpolster werden seit Jahrzehnten aus Materialien wie Flachs, Hanf, Kenaf, Papier, Zellulose oder Baumwolle gefertigt. Die Autohersteller müssen nachwachsende Rohstoffe einsetzen: Gemäss der europäischen Altfahrzeugrichtlinie 2000/53/EG müssen 85 Prozent eines Autos stofflich recyclingfähig sein. Doch im sichtbaren Bereich des Autos, dort, wo man die Materialien sehen und betasten kann, setzte man lange auf Leder, tropische Edelhölzer, Metalle und hinterschäumte Kunststoffe. Heute kommen dort mehr und mehr Materialien aus wiederverwerteten Stoffen zum Einsatz. «Rund sieben Millionen Tonnen Rohstoffe fliessen jedes Jahr in die Produktion unserer PW und Nutzfahrzeuge», schreiben dazu die Verantwortlichen von Mercedes-Benz. «Umso wichtiger ist es, den Bedarf an Rohstoffen, die nur begrenzt verfügbar sind oder Umwelt und Gesellschaft belasten können, schon in frühen Entwicklungsstadien zu optimieren.»
Ein Trendsetter war der kalifornische Hersteller Fisker mit dem ab 2011 produzierten Modell Karma. Getreu dem Motto Nomen est Omen spendierte der dänische Firmengründer Henrik Fisker, früherer Designer bei BMW und Aston Martin, dem Karma nicht nur einen benzinsparenden Plug-in-Hybridantrieb samt Solarzellendach, sondern auch eine wasserbasierte Lackierung sowie Einlagen aus Restholz von sturmgefällten Bäumen oder Recycling-Velours im Interieur. «Wir glauben, dass viele Autokäufer einen stylischen Sportwagen mit einem positiven, umweltbewussten Image wollen», sagte Henrik Fisker damals. Der Däne war der Zeit voraus: 2012, nur ein Jahr nach Produktionsstart, musste das kalifornische Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen die Segel streichen.
Als Volvo vor fünf Jahren stolz Schwemmholz-Intarsien in einem seiner SUV-Modelle ankündigte, schmunzelten noch viele – heute verzieht die Fachwelt bei diesem Thema keine Miene mehr. Gerade bei Elektroautos ist die Verwendung besonders umweltfreundlicher Stoffe offensichtlich ein Muss. Im Mazda MX-30 beispielsweise kommen viele wiederverwertete Materialien zum Einsatz: «Der Stoff an den Türinnenseiten besteht zu 100 Prozent aus geschredderten PET-Flaschen, die Sitzbezüge enthalten 20 Prozent wiederverwertetes Garn, die Ablageflächen sowie die Tür-Innengriffe sind aus Korkresten, die bei der Produktion von Weinkorken entstehen», erklärt Innenraum-Designer Bahram Partaw. Auch ein veganes Kunstleder, das ohne den Einsatz von Chemikalien produziert wird, wird verbaut.
Tomatenhaut statt Gummi
Im BMW i3 wiederum sind je nach gewählter Ausstattung bis zu 80 Prozent aller Flächen im Sichtfeld des Fahrers aus nachwachsenden oder nachhaltig verarbeiteten Rohstoffen wie europäischer Eukalyptus oder Schurwolle. Volvos Tochter Polestar setzt ebenfalls Stoffe aus recycelten PET-Flaschen, aus Korkabfällen oder wiederverwerteten Fischnetzen ein. «Um wirklich nachhaltig zu sein, müssen wir jedes Element in den Autos bewerten», sagt Polestar-Chef Thomas Ingenlath. Bei Nachhaltigkeit gehe es um weit mehr als nur um den Elektroantrieb. «Mit der Entwicklung dieser nachhaltigen Materialien setzen wir ein klares Statement und verdeutlichen unsere Absichten.» Zulieferer wie Continental entwickeln an weiteren nachhaltigen Materialien: Hummerschalen (aufgrund ihrer guten antimikrobiellen Eigenschaften), Tomatenhaut für Schläuche und Aufhängungsbuchsen oder Kaffeespreu, die in Scheinwerfern verwendet wird.
Die Forschung ist wie immer deutlich weiter als die Serienfertigung. Die Technische Universität Eindhoven entwickelte ein Auto, bei dem sogar das Chassis aus Flachsfasern und zuckerbasiertem Biokunststoff besteht. Diese Materialien benötigen nur ein Sechstel der Energie in der Herstellung im Vergleich zu den gängigen Leichtbaumaterialien Aluminium oder Kohlefaser und sind voll recycelbar. «Die Autoindustrie ist bereits sehr gut im Recycling», sagt Projektsprecher Ces Verstappen. «Wir sind jedoch der Meinung, dass der gesamte Lebenszyklus eines Autos von der Produktion über die Nutzung bis zum Recycling optimiert werden sollte.» Doch für die Crash-Struktur eines Autos wird man noch lange auf hochfeste Stähle, Aluminium oder Karbon setzen. In allen anderen Bereichen ist der Siegeszug der nachhaltigen Stoffe unaufhaltbar. Dave Schneider