Wer sich heute dem Dorfzentrum von Urnäsch von Osten her nähert, wird auf den ersten Blick das gewohnte Bild der Häuser am Dorfplatz vorfinden. Die neu gebaute Gemeindekanzlei steht an der Stelle des ursprünglichen Gebäudes und hat sich in Position und Grösse nur unwesentlich verändert. Und doch zeigt der zweite Blick etwas ganz Neues, eine selbstbewusste Haltung, einen aktuellen Beitrag unserer Zeit. Die Gestaltung des Hauses bricht nicht mit der traditionellen Bauform, sondern demonstriert beispielhaft, wie gerade die traditionellen Werte eines unter Bundesschutz stehenden Ortsbildes neu interpretiert, weiterentwickelt, aufgewertet werden können. Und so wirkt das Haus auf eben diesen zweiten Blick doch neu und modern. Im Unterschied zu den historischen Bürgerhäusern mit ihren prägenden Fassadenfarben ist die wiederaufgebaute Gemeindekanzlei ganz in kühlem Weiss gehalten. Sie bildet damit das Pendant zur steinernen weissen Kirche und repräsentiert mit ihr zusammen die öffentlichen Bauten am Platz.
Eine weitere Differenz liegt in den gebauten Dimensionen. Ein Makel vieler schöner historischer Bauten im Appenzellerland sind die knappen Raumhöhen. Diese wurden hier korrigiert, und das sollte ganz bewusst auch in der äusseren Erscheinung manifest werden. Die vertikal aufstrebenden Fenster- und Fassadenelemente unterstützen jenen grosszügigen Ausdruck, der den Gesamtcharakter des stolzen Baus wesentlich prägt. Die zentrale, in der Fassadenflucht liegende, dreiachsige Lukarne repräsentiert den hohen Gemeinderatssaal im Dachgeschoss und unterstreicht damit die Wirkung der Hauptfassade und den markanten öffentlichen Habitus des Hauses am Platz.
Im Zusammenhang mit der neuen Gemeindekanzlei ist es ferner gelungen, das Zentrum mit weiteren Bauwerken zu stärken. Mit dem noch im Bau befindlichen Kanzleiplatz zur Kirche hin wird der Dorfplatz um einen ebenen, öffentlichen Veranstaltungsort mit Dorflinde und Brunnen erweitert. Auf der Südseite des niedriger gelegenen Kanzleihofes entsteht das angrenzende Wohnhaus mit gemeinsamer Tiefgarage. Es ist bedeutsam, dass gerade in der Dorfmitte Impulse für modernes und zentrumsnahes Wohnen gesetzt werden.
Die ortbaulichen Aspekte, die es für die Hauptaufgabe – den Neubau der Kanzlei – an derart empfindlicher Stelle zu berücksichtigen galt, sind das Eine. Mindestens ebenso entscheidend sind die Konstruktionsweise und der Ausdruck der Architektur. Von der Gemeinde wurde von Anfang an die Aufgabe gestellt, das Haus ganz in Holz aus Urnäscher Wäldern zu bauen. Der ökologische Hintergrund ist selbstverständlich und muss nicht weiter ausgeführt werden. Hier aber ging es um weit mehr, nämlich um die Förderung des lokalen Handwerks, das diese anspruchsvollen Bauleistungen erbringen und sich mit den gewonnenen Erfahrungen weiterentwickeln kann: Sei das im Aufrichten der Rohbaukonstruktion, mit der Fertigung der inneren Ausbauten von Böden, Wänden und Einbauten, mit der Herstellung und Montage der für die äussere Erscheinung prägenden gestemmten Weisstannenfassade und zu guter Letzt mit der imposanten Konstruktion des krönenden Walmdaches. In all diesen Bereichen wurden rationelle Produktionsmethoden des modernen Holzbaus angewendet. Im Innern des Hauses ist die hölzerne Rohbaukonstruktion denn auch in weiten Teilen sichtbar geblieben. Die einfache Raumstruktur repräsentiert die klare Baulogik aus massiven Holzdecken und Wänden. Einzig die beiden Empfangsräume im Zentrum sowie das offene Treppenhaus sind verkleidet und daher auch farblich akzentuiert. Das Hinaufsteigen bis zum Gemeinderatssaal im zweiten Obergeschoss wird zu einem erhabenen Raumerlebnis, das im gewölbten Saal unter dem Dach seine Bestimmung findet. Es wäre schön, wenn dieser Raum neben seiner eigentlichen Nutzung auch dann und wann das reiche Kulturleben von Urnäsch zur Entfaltung bringen könnte.
Wie eingangs angetönt: Das durchaus riskante Unternehmen dieses Bauvorhabens zeigt modellhaft die Möglichkeit auf, den traditionellen Werten Neues hinzuzufügen, eine Harmonie von Alt und Neu herzustellen und damit eine gestärkte Dorfgestalt zu schaffen. Der Mut zum Neubau war ein Wagnis, das nun aber ohne Zweifel Impulse setzen wird. Gerade in unserer oft allzu individualistisch und kurzfristig monetär getriebenen Welt ist es bedeutsam, öffentlichen Gemeinschaftswerken eine Chance zu geben, welche die handwerklichen und kulturellen Fähigkeiten einer Dorfgemeinschaft unter Beweis stellen und auch sichtbar repräsentieren.
Alle, die am engagierten Vordenken, Planen und Realisieren beteiligt waren, haben grosse Freude, dieses Haus der Gemeinschaft der Urnäscher Bürgerinnen und Bürger übergeben zu dürfen.
Staufer & Hasler Architekten und das Planungsteam