Anzeige

Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen: Pflege heisst nicht Dienen

Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen: Pflege heisst nicht Dienen

In Pflegeberufen herrscht seit Jahren Fachkräftemangel. Bild: Gaëtan Bally/Keystone

Pflegeberufe haben in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Professionalisierung und Spezialisierung erfahren. Das liegt zum einen an der zunehmenden Komplexität des Gesundheitssystems und zum anderen an neuen Therapieformen in der Medizin, die vermehrt Spezialwissen erfordern. Damit sind auch die Anforderungen an Pflegefachleute stark gestiegen. «In der Pflege wird schon längst nicht mehr nur aufgrund von Erfahrungswissen gehandelt», sagt Birgit Vosseler, Leiterin des Departements Gesundheit an der Ostschweizer Fachhochschule. «Pflege funktioniert heute evidenzbasiert und bezieht die Erkenntnisse aus der Wissenschaft. Nur so können die erforderlichen Pflegeleistungen erbracht werden.»Viele Möglichkeiten nach der BerufslehreDie steigenden fachlichen Anforderungen und die zunehmende Spezialisierung zeigen sich in den vielfältigen Weiterbildungsmöglichkeiten. Nach einer Berufslehre als Fachmann/-frau Gesundheit EFZ besteht beispielsweise die Möglichkeit für eine Ausbildung zur Pflegefachperson HF. In der Ostschweiz wird dieser Studiengang in St. Gallen, Sargans und Weinfelden angeboten. In St. Gallen sind zudem Studiengänge im Bereich biomedizinische Analytik und Operationstechnik möglich. Über die Berufsprüfung und die höhere Fachprüfung können nach einigen Jahren Berufserfahrung weitere Spezialisierungen absolviert werden. Die Ausbildungen zum Fachexperten für Infektionsprävention oder zur Fachperson für neurophysiologische Diagnostik sind nur zwei von Dutzenden Beispielen.   

Die Coronakrise hat die Pflegeberufe in den Fokus gerückt. Ein Berufsfeld, das sich durch Spezialisierung auszeichnet und in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird.

Die Ostschweizer Fachhochschule bietet in St. Gallen einen Bachelorstudiengang im Bereich Pflege an. Abgeschlossen wird dieser mit dem Bachelor of Science. Darauf aufbauend kann ein Master of Science in Pflegewissenschaft erworben werden. «Die vielen Weiterbildungs- und Spezialisierungsmöglichkeiten haben einen positiven Einfluss auf die Anerkennung des Berufs und die Stellung des Fachpersonals in den Spitälern und Pflegeeinrichtungen », sagt Birgit Vosseler. «Sie tragen dazu bei, dass Pflege nicht mehr eine rein dienende, sondern eine fördernde und begleitende Tätigkeit ist.» Deshalb sei es wichtig, dass die Ausbildung weiter gestärkt wird.

Männer sind untervertreten

In den Bereichen Aus- und Weiterbildung hat sich bei den Pflegeberufen also viel getan. Eines ist aber geblieben: Pflegeberufe werden auch heute noch zum grossen Teil von Frauen ausgeübt. «Das hängt direkt mit der gesellschaftlichen Wertschätzung des Berufs zusammen», sagt Vosseler. «Dass die Pflegefachleute während der Coronakrise Applaus erhalten, ist schön und freut uns. Diese Wertschätzung muss sich jetzt aber auch auf die Arbeitsbedingungen auswirken. » Zudem sei es wichtig, einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, dass die Pflege heute auf wissenschaftlicher Basis funktioniert und die Ausbildungswege müssen vielfältiger gestaltet werden.
   

Eine weitere Konstante in den Pflegeberufen ist der chronische Fachkräftemangel. Auch im Kanton St. Gallen müsse gemäss Gesundheitsdepartement die Zahl ausgebildeter Pflegefachpersonen bis 2030 deutlich steigen. Besonders prekär sei der Mangel an diplomierten Fachpersonen mit Ausbildung an einer höheren Fachschule (HF) oder Fachhochschule (FH). Der Kanton St. Gallen will nun mehr Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für das Studium gewinnen und prüft deshalb eine Teilzeitausbildung mit finanzieller Unterstützung. Vorbilder für ein solches mitfinanziertes Teilzeitstudium sind beispielsweise der Kanton Zürich oder der Kanton Thurgau. Im Thurgau wurde bereits 2012 das Projekt «25plus» gestartet, das den HF-Studiengang Pflege unterstützt.

Patrick Baumann

«Das Arbeitsumfeld ist vielseitiger geworden»

Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen: Pflege heisst nicht Dienen-2
Michel Bamert, Leiter Pflegedienst PZA in Herisau. Bild: SVAR

Der Pflegeberuf entwickelt sich stetig weiter und erfordert immer mehr Fachwissen. Michel Bamert arbeitet seit 1996 in der Pflege und ist seit 1999 ausgebildeter Pflegefachmann HF. Seit Juni 2020 ist er im Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden als Leiter Pflegedienst tätig. Er erzählt, wie sich der Beruf in den vergangenen Jahren gewandelt hat, welche Eigenschaften man für Pflegeberufe mitbringen muss und was die Arbeit in der Pflege interessant und herausfordernd macht.

Wie hat sich der Pflegeberuf in den vergangenen Jahren verändert?

Michel Bamert: Die Spezialisierung und Professionalisierung des Berufes hat sich erhöht und wird sich in Zukunft weiter erhöhen. Das hat zur Folge, dass Pflegefachpersonen bereits heute mehr Aufgaben erledigen, die früher klar den Ärzten zugeordnet wurden. Das Arbeitsumfeld wurde dadurch vielseitiger. Auch dieser Trend wird sich fortsetzen. Die Anerkennung des Berufs entwickelt sich somit immer weiter weg vom dienenden hin zum eigenständigen Beruf. Was bleibt, ist der Fokus auf die Patienten mit ihren individuellen Wünschen und Anliegen.

Welche Eigenschaften muss man für diesen Beruf mitbringen?

Fachlich ist eine abgeschlossene dreijährige Berufslehre mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis, FMS-Abschluss oder gymnasiale Matur sowie ein bestandenes Zulassungsverfahren erforderlich. Studierende der Pflege sollten Freude an der Arbeit mit und am Menschen mitbringen und sich für gesundheitliche Fragestellungen und deren Lösungen interessieren. Für den praktischen Teil der Ausbildung sowie auch später im Beruf sind hohe Sozial- und Kommunikationskompetenzen, Teamfähigkeit und die Freude an interdisziplinärer Zusammenarbeit unabdingbar. Zudem sollten sie über ein hohes Mass an Verantwortungsgefühl, Leistungsbereitschaft und Selbstreflexionsfähigkeiten verfügen. Die tägliche Konfrontation mit zum Teil wirklich schwer erkrankten Menschen erfordert zudem ein hohes Mass an psychischer Belastbarkeit.

Was macht den Beruf interessant?

Es handelt sich um einen sinnstiftenden, abwechslungsreichen und herausfordernden Beruf, welcher sich weiter Richtung Professionalisierung entwickelt und zudem krisenresistent ist.

Was würden Sie angehenden Pflegefachkräften mit auf den Weg geben?

Sie haben einen super Beruf gewählt und stehen vor einer erstklassigen Ausbildung. Bleiben Sie sich dessen stets bewusst, nutzen Sie Ihren Spielraum und bleiben Sie diesem interessanten Beruf treu. (pab)

«Professionelle Pflege lässt sich nicht durch technische Innovationen automatisieren»

Ostschweizer Fachhochschule St. Gallen: Pflege heisst nicht Dienen-3
Thomas Beer, Studiengangleiter MSc in Pflege OST. Bild: OST

Die Digitalisierung hält auch in der Pflege Einzug. Thomas Beer ist Studiengangleiter des Master of Science in Pflegewissenschaft an der Fachhochschule Ostschweiz. Er beschäftigt sich in seiner Forschung und Lehre unter anderem mit Chancen und Risiken von robotischen Assistenzsystemen im Pflegebereich. Im Interview erklärt er, wie sich die Digitalisierung in den Pflegeberufen auswirkt, ob Roboter bald einen Teil der Pflegearbeit übernehmen können und ob die Digitalisierung tatsächlich im Kampf gegen den Fachkräftemangel hilft.

In welchen Bereichen wirkt sich die zunehmende Digitalisierung auf die Pflegeberufe aus?

Digitale Technologien kommen heute vor allem bei administrativen Tätigkeiten und der Dokumentation, aber auch in der Diagnostik zum Einsatz. Allgemein ist die Digitalisierung in der Pflege aber noch nicht so weit fortgeschritten, wie oft angenommen wird. Grundsätzlich gilt: Je näher am Patienten, desto weniger Technik kann in der Pflegearbeit eingesetzt werden. Die professionelle Pflege lässt sich nicht durch technische Innovationen automatisieren.

Der autonome Pflegeroboter, wie er in Werbevideos angepriesen wird, ist also noch in weiter Ferne?

Solche Pflegeroboter sind Fiktion und wir sollten uns als Gesellschaft ohnehin fragen, ob wir überhaupt in diese Richtung gehen wollen. Mit zunehmender Digitalisierung stellen sich auch komplizierte ethische Fragen. Das fängt schon weit vor autonomen Pflegerobotern an.

Welche ethischen Fragen stellen sich aktuell im Zusammenhang mit der Digitalisierung in der Pflege?

Zuerst sollte sichergestellt werden, dass alle gleichen Zugang zu technischen Innovationen haben. Weiter bestehen durch die Digitalisierung theoretisch mehr Überwachungsmöglichkeiten. Es darf weder den gläsernen Patienten noch die gläserne Pflegefachperson geben. Was auch nicht passieren sollte ist, dass zukünftig nur wohlhabende Patienten eine Betreuung durch Fachpersonen erhalten und alle anderen mit einer digitalisierten Form der Betreuung vorliebnehmen müssen.

Welche Chancen bringt die Digitalisierung?

Im Optimalfall kann die Digitalisierung Pflegebedürftige und Pflegepersonal unterstützen und Routinetätigkeiten übernehmen. Technik muss in der Pflege aber immer komplementär gedacht werden.

Wo sehen Sie die Risiken?

Die Entwicklung der Digitalisierung in der Pflege sollte nicht aus der Entwicklerperspektive, sondern aus der Anwender- und Patientenperspektive betrieben werden. Da besteht momentan noch Nachholbedarf.

Digitalisierung ist also kein probates Mittel, um dem Fachkräftemangel zu begegnen?

Ich sehe gewisse Potenziale, aber nur im unterstützenden Bereich. Die Annahme, robotische Artefakte könnten pflegerisches Handeln vollständig ersetzen, führt in die Irre. Technik macht die Arbeit nicht unbedingt einfacher. Sie muss ja von fachkundigen Personen bedient werden. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, müsste sich die Wertschätzung der Gesellschaft für den Beruf ändern. (pab)