Berufe im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik bieten im digitalen Zeitalter sehr gute Berufsperspektiven und Einkommenschancen. Männer sind in diesen Berufen verhältnismässig überrepräsentiert. Trotz zahlreicher Initiativen seitens der Politik und von Berufsverbänden verändert sich die geschlechtsspezifische Berufswahl nur langsam. Die Gründe dafür sind nicht abschliessend geklärt. Sicher ist, dass Frauen in schulischen MINT-Fächern keineswegs schlechter abschneiden als Männer. Der Geschlechterunterschied in Mathematik und Naturwissenschaften ist in den meisten OECD-Ländern gering. In einigen Ländern mit geschlechtergetrenntem Unterricht schneiden Mädchen in den Naturwissenschaften sogar besser ab.
Weichen werden in der Primarschule gestellt
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung liefert einen Hinweis auf eine mögliche Ursache für den Frauenmangel in MINT-Berufen. Die Studie zeigt, dass Mädchen ihre Fähigkeiten im Schulfach Mathematik unterschätzen. Jungen dagegen halten sich in Mathematik für begabter, als es die Noten rechtfertigen. Unterschiede in der Selbstwahrnehmung sind bereits in der fünften Klasse sichtbar und bleiben in höheren Jahrgangsstufen bestehen. «Diese Befunde zeigen sich leider auch in anderen MINT-Bereichen sehr deutlich, beispielsweise im Fach Physik», sagt Sanja Atanasova, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Gender und MINT an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Eine Ursache dafür seien vorhandene Geschlechterstereotype. «Das heisst, Mädchen nehmen beispielsweise Physik als Jungenfach wahr. Das kann dazu führen, dass sich Mädchen von MINT-Berufen abwenden, weil sie denken, dass Mathematik oder Physik nichts für sie ist.» Solche Geschlechterstereotype sind aber nicht die einzige Ursache für Unterschiede bei der Selbsteinschätzung. «Auch Sozialisationspersonen wie beispielsweise Eltern oder Lehrpersonen mit ihren teilweise auch geschlechterstereotypen Erwartungen haben einen Einfluss darauf, wie Schülerinnen und Schüler die eigenen Fähigkeiten wahrnehmen», so Atanasova weiter.
Ausschlaggebend für den Frauenmangel in MINT-Berufen sei aber nicht nur das mangelnde Selbstkonzept der Frauen. Auch fehlende Rollenmodelle und ungünstige Attributionsmuster bei Mädchen müssten berücksichtigt werden. Hier setzt das Mentoring-Programm «Swiss TecLadies» der Schweizerischen Akademie für Technische Wissenschaften (SATW) an. «Im Rahmen dieses Programms werden Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren von Mentorinnen begleitet mit dem Ziel, dass sich Mädchen realistische Vorstellungen von technischen Berufen machen und so Erkenntnisse für ihr künftiges Berufsleben gewinnen können», sagt Atanasova.
Geschlechterstereotypen entgegenwirken
Lehrpersonen spielen beim Thema geschlechtsspezifische Berufswahl eine Schlüsselrolle, weil sie auf die Leistung und die Einstellungen von Schülerinnen und Schülern Einfluss haben. «Wichtig ist zu zeigen, dass weder Mathematik noch Naturwissenschaften und Technik typische Jungenfächer sind und daher allen Geschlechtern offenstehen», sagt Atanasova. «Deshalb müssen angehende Lehrpersonen für solche Themen sensibilisiert werden. Sie müssen sich Wissen über gendersensibles Unterrichten aneignen und Sicherheit im Umgang mit Genderaspekten gewinnen.» Dafür brauche es eine kritische und reflexive Auseinandersetzung mit Geschlecht im Schulkontext. In der Lehrpersonenausbildung nimmt diese Thematik deshalb einen wichtigen Stellenwert ein. Die PHSG beteiligt sich in diesem Zusammenhang an unterschiedlichen Projekten mit dem Ziel, die Genderkompetenz angehender Lehrpersonen zu erhöhen. Des Weiteren soll das Dissertationsprojekt «Genderkompetenzen von Lehrpersonen der Sekundarstufe I im Fach Physik» einen tieferen Einblick über die Geschlechterstereotype von Lehrpersonen und ihre professionellen Kompetenzen im Zusammenhang mit einem gendergerechten Physikunterricht geben.
Sanja Atanasova ist überzeugt, dass genderkompetente Lehrpersonen besser in der Lage sind, Geschlechterungleichheiten im Schulzimmer wahrzunehmen und dem entgegenzuwirken. «Sensibilisierte Lehrpersonen kennen Methoden und Strategien, wie sie sowohl Jungen als auch Mädchen für MINT-Fächer begeistern können», sagt sie. Patrick Baumann
«Eine Brücke zwischen Bildung und Industrie schlagen»
In der Schweiz herrscht seit Jahren ein Fachkräftemangel im MINT-Bereich. Der demografische Wandel und die Schwierigkeiten, Frauen für solche Berufe zu begeistern, sind nur ein Teil der Erklärung. Ein anderes Problem ist, dass sich Jugendliche offenbar allgemein nicht genügend für MINT-Fächer interessieren. Nicolas Robin, Leiter Institut Fachdidaktik Naturwissenschaften an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen (PHSG), erklärt, wie Jugendliche in der Volksschule für MINT-Berufe begeistert werden sollen und wie in der Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen mit diesem Problem umgegangen wird.
Werden Kompetenzen in MINT- Fächern in Primar- und Sekundarschule speziell gefördert, um mehr Jugendliche für MINT- Berufe zu begeistern?
Nicolas Robin: Die Notwendigkeit, das Interesse der Jugendlichen an MINT-Berufen zu wecken und ihre Kompetenzen in diesen vielseitigen Bereichen zu stärken, ist den Lehrkräften der Volksschule sehr bewusst. Der neue Lehrplan 21 bietet den geeigneten Rahmen, um diese Kompetenzen und die naturwissenschaftlich-technische Kultur der Schülerinnen und Schüler zu fördern. An der Pädagogischen Hochschule St. Gallen werden die zukünftigen Lehrkräfte in diesem Sinne ausgebildet. Zudem sind in den letzten zehn Jahren zahlreiche Initiativen zur Förderung des Interesses an MINT-Berufen ins Leben gerufen worden.
Wer ist an diesen Initiativen beteiligt und was sind die Ziele dieser Initiativen?
Die Initiativen sind in Zusammenarbeit mit Stiftungen und mit Unterstützung des Kantons St. Gallen, insbesondere im Rahmen der IT-Bildungsoffensive, entstanden. Ziel der Initiativen ist es, eine Brücke zwischen der Bildung und der Gesellschaft und insbesondere der Welt der Industrie und der Start-ups schlagen. Die Lehrkräfte der Volksschule nehmen diese Angebote wahr, vom Technikcampus über «mobiLLab» bis hin zum Bildungslab Smartfeld, welches von der PHSG zusammen mit der Ostschweizer Fachhochschule, der HSG, der EMPA und der GBS getragen wird.
Was genau ist der Inhalt dieser Initiativen und wie profitieren die Schülerinnen und Schüler?
Am Technikcampus beteiligen sich jedes Jahr 15 Industriebetriebe aus der Region St. Gallen Die grundlegende Idee ist es, die Industrielandschaft als einen besonderen ausserschulischen Lernort zu nutzen und diesen Wirtschaftssektor besser in die Berufswahlvorbereitung zu integrieren. Zudem sollen Lehrpersonen in ihrer Verantwortung, die MINT-Disziplinen im Volksschulalter zu fördern, unterstützt werden. Das Smartfeld hingegen bietet Kurse für Schulklassen rund um die Themen Coding, Programmieren, Robotik, Photonik und Digital Entrepreneurship an. Beim «mobiLLab» handelt es sich um ein mobiles Hightech-Labor mit zwölf Arbeitsplätzen, welches für einen Tag an ein Oberstufenzentrum kommt. Ziel des Projekts ist es, bei den Schülerinnen und Schülern das Interesse an Naturwissenschaften und Technik zu fördern.
Wie wird sichergestellt, dass die Lehrpersonen bezüglich Entwicklung im MINT-Bereich auf dem aktuellen Stand bleiben können?
Für Lehrpersonen gibt es in diesem Bereich eine Vielzahl an Weiterbildungsmöglichkeiten und Dienstleistungen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist ein Weiterbildungsangebot der PHSG in Zusammenarbeit mit Swissmem und der Ostschweizer Fachhochschule im Bereich Photonik. Dabei handelt es sich um eine Technologie, die als zukunftsweisend für das 21. Jahrhundert verstanden wird. Solche Weiterbildungsangebote tragen dazu bei, dass die Bildung der kommenden Generationen von den aktuellen Entwicklungen in den MINT-Berufen profitiert. (pab)
Person
Sanja Atanasova
Wiss. Mitarbeiterin Gender und MINT an der PHSG
Person
Nicolas Robin
Leiter Institut Fachdidaktik Naturwissenschaften PHSG