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Gegen den Strom

Fokus Start-up

Gegen den Strom

Dr. Christina Marchand, Inst. f. Innovation & Entrepreneurship

Ein Drachen, der autonom in die Luft steigt und in windigen Höhen Strom produziert – gibt es nicht? Doch! Dank dem 2013 gegründeten Empa-Spin-off namens Twingtec. Für die Stromproduktion zieht der Drache ein Seil von einer Rolle, deren Achse mit einem Generator verbunden ist. Sobald das Seil abgerollt ist, fliegt der Drachen in die Nähe der Bodenstation zurück, das Seil wird aufgespult und der Aufstieg beziehungsweise die Stromproduktion beginnt von Neuem. Damit ist Twingtec eines von insgesamt 470 Start-ups in der Schweiz im Bereich Umwelt und Energie, die gemeinsam an einer nachhaltigen Zukunft arbeiten.Der Boden, auf dem Start-ups gedeihen«Wir haben hier in der Schweiz eine tolle Start-up-Szene mit sehr engagierten Menschen», sagt Dr. Christina Marchand, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim «Institut for Innovation & Entrepreneurship» der ZHAW. Mit dem Swiss Innovation Monitor erfasst und erforscht das Institut seit 2014 die Schweizer Energie- und Umwelt-Start-ups systematisch. «Damit möchte der Bund mehr darüber erfahren, ob und wie die gesprochenen Fördermassnahmen greifen», so die Wissenschaftlerin, die selbst Gründerin eines Start-ups im Strombereich ist. Und fügt an: «Ein weiteres Ansinnen war und ist es, Start-ups untereinander zu vernetzen und ihre Sichtbarkeit gegenüber Investoren zu erhöhen.» Dies ermöglicht insbesondere der jährlich stattfindende «Energy Start-up Day», der im Oktober letzten Jahres rund 200 Teilnehmende zu Investoren-Speed-Datings, Projektpräsentationen und inspirierendem Wissensaustausch zusammenbrachte.

Fehlende Gelder, schwammige Gesetze und ein grosses persönliches Engagement. Vor diesen Herausforderungen stehen Schweizer Start-ups im Bereich Umwelt und Energie.

«Während der ersten Schritte als Start-up ist man hier in der Schweiz sehr gut begleitet», so Dr. Rolf Luchsinger, Physiker ETH, Mitbegründer und CEO von Twingtec. Neben Fördergeldern und -instrumenten in der Frühphase sei die Schweiz mit ihrer Hochschullandschaft auf Weltklasseniveau bestens positioniert, um innovative Start-ups gedeihen zu lassen. Voraussetzungen, die dazu führten, dass Twingtec 2018 einen weltweiten Durchbruch verkünden durfte: Das erste Windkraftwerk, das mittels Drohnentechnologie automatisiert starten, fliegen und landen kann. Ebenso kann die Drohne feststellen, ob die Windgeschwindigkeit ausreichend ist. Wenn dies nicht der Fall ist, landet die Drohne eigenständig. «Diesen Prozess hat bislang noch kein Energiedrohnen-Start-up so umsetzen können. Unsere Technologie wird damit markt- und konkurrenzfähig», blickt Dr. Rolf Luchsinger positiv in die Zukunft.

«Zur Gründung eines Start-ups braucht es ein gewisses Mass an Selbstüberschätzung.»

Risikoaffinität und Realitätssinn

Der Erfolg verdankt Twingtec insbesondere einer starken Teamleistung. «Wir sind ein neunköpfiges Team, bestehend aus Unternehmern, Ingenieuren und Wissenschaftlern mit einer gemeinsamen Mission: das volle Potential der Windkraft mit einer neuen Technologie nutzbar zu machen und so die Energiewende beschleunigen.» Damit passt das Empa-Spin-off perfekt ins Bild des durchschnittlichen Schweizer Start-ups, wie die Zahlen des aktuellen Untersuchungsberichts des Swiss Innovation Monitors zeigen. Christina Marchand: «Die meisten Start-ups sind sehr klein: Nur 9 Prozent haben über 20 Mitarbeitende. Weiter hat uns in seiner Deutlichkeit die Untervertretung der Frauen – 83 Prozent der Start-ups wurden ausschliesslich von Männern gegründet – erstaunt. «Leider gibt es in unserem von Ingenieuren vorangetriebenen Bereich nur sehr wenig hoch qualifizierte Frauen», nennt Dr. Rolf Luchsinger eine Erklärung, die allerdings im Bereich Umwelt- und Naturwissenschaften nicht greift. «In diesen Studiengängen ist das Geschlechterverhältnis ziemlich ausgeglichen», so die Wissenschaftlerin. Die Ursache sieht sie auch darin, dass es zur Gründung eines Start-ups ein gewisses Mass an Selbstüberschätzung brauche. «Frauen sind da schon risikoscheuer.»

Neben dem Mut, neue Wege zu gehen, spricht Rolf Luchsinger ebenso von einer guten Portion Realitätssinn, wenn es darum gehe, ein Start-up zum Fliegen zu bringen. «Man investiert sehr viel Zeit, Energie und Geld.» Gründerinnen und Gründer sollten sich dessen bewusst sein und abwägen, ob dies mit der privaten Situation zu vereinbaren ist. Die Lancierung eines Start-ups sei eine Reise, die einem immer wieder vor Herausforderungen stelle und daran wachsen lasse. «Eine gewisse Hartnäckigkeit ist unabdingbar.» Zu Beginn bekamen wir für unsere Sache wenig Kredit und es gab grosse Zweifel, ob es überhaupt funktionieren würde. «Unser Bauchgefühl sagte jedoch: Es wird klappen.»

Politik als Innovationsboost

Gegen den Strom-2
Das Start-up TwingTec testet im Jura die Pilotanlage des weltweit ersten mobilen Windenergiesystems. Bild: TwingTec

Es hat geklappt, und so steht Twingtec nun vor dem nächsten Schritt: Der Kommerzialisierung. «Minen, abgelegene Siedlungen und Inseln sind unsere potenziellen Kunden. Nach wie vor wird dort Strom aus Dieselgeneratoren gewonnen, die Abgase und Lärm erzeugen. Zudem muss der Treibstoff unter hohem Aufwand angeliefert werden.» Dafür braucht das Spin-off Geldgeber, die in der Schweiz nicht so leicht zu finden sind. Rolf Luchsinger: «Wir produzieren Hardware, was es nochmals schwieriger macht, Investoren zu finden.» Eine Aussage, die der Swiss Innovation Monitor 2019 unterstützt. Gegenüber Service- und Software-Unternehmen haben es Start-ups mit Hardware-Produkten schwieriger. «Deswegen bleiben sie länger in der initialen Entwicklungsphase», sagt Dr. Christina Marchand. Über alle Start-ups gerechnet, dauert der Wechsel in die etablierte Phase in der Regel sieben bis zehn Jahre. «Langsamer, als es die meisten erwarten.» Häufig aufgrund der fehlenden Finanzierung, wegen der unterschätzten Komplexitäten, der Schwierigkeit, gute Mitarbeiter zu finden oder einer verzögerten Marktentwicklung.

Ist denn in Zuge der Energiewende 2050 der Markt nicht schon geschaffen? «Noch sind im Bereich Klima- und Umweltschutz zu viele Gesetze schwammig formuliert. Die Politik setzt auf Freiwilligkeit. Es fehlt an klaren Regeln. Wären Unternehmen dazu verpflichtet, die externen Kosten zu internalisieren, beispielsweise durch eine CO2-Bepreisung, dann wäre dies ein extremer Innovationsboost», ist Dr. Christina Marchand überzeugt. «Die Start-ups müssten dann nicht mehr gegen den Strom schwimmen.» Drachen als Windkraftanlagen wären dann kein «nice to have» mehr, wie es die Wissenschaftlerin formuliert, sondern eine von vielen erneuerbaren Energietechnologien, die die Energiewende Realität werden lassen. Lea Marti

Fokus Start-up

Der «Swiss Environment & Energy Innovation Monitor» ist seit 2018 online. Start-ups können sich dort registrieren, Interessierte neue Innovationen entdecken – so auch den stromproduzierenden Lenkdrachen von Twingtec – und News zur Start-up-Szene im Bereich Umwelt und Energie erfahren. (lm)

Mehr Informationen unter www.innovation-monitor.ch