Recycling ist in aller Munde. Doch es gebe wichtige Unterschiede, wenn ein Material am Ende seines Einsatzzwecks angelangt sei, sagt Enrico Marchesi: «Recycling ist das letzte Fangnetz, bevor etwas im Abfall landet. Mit guter Vorarbeit lässt sich der Löwenanteil des Abfalls im Bausektor vermeiden.» Marchesi ist Innovation Manager am Nest in Dübendorf, einem modular aufgebauten Forschungsgebäude der Empa. Hier werden unter anderem Materialien und Bautechnologien validiert, bevor sie auf den Markt kommen. In bis zu zehn Modulen wird gewohnt, gearbeitet oder Sport getrieben, sodass alle Tests unter realen Bedingungen ablaufen. Das Kürzel Nest steht für «Next Evolution in Sustainable Building Technologies» und für einen neuen Denkansatz. «Viel schlauer als Recycling ist es, das Bauen als Kreislauf zu begreifen », sagt Marchesi.Geschraubt statt geschäumtWie gut kreislaufgerechtes Bauen funktioniert, beweisen die Module «UMAR» und «Sprint» in der Praxis. Von der Wasserleitung und dem Bodenbelag über Wände und Fenster bis zur Stromversorgung können wenige Leute die Module mit Standardwerkzeugen in kurzer Zeit abbauen und alles sortenrein sortieren und sammeln. Das klappt unter anderem, weil keine irreversiblen Verbindungen benutzt werden. Bauschaum und Klebeverbindungen haben hier nichts zu suchen.
Der Hintergrund für das Konzept ist einfach zu verstehen, sagt Marchesi: «Rohstoffe stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung. Eine Kreislaufwirtschaft hilft, Rohstoffengpässen aus dem Weg zu gehen.» Nicht umsonst wird das Konzept auch «Urban Mining» genannt, denn jedes bewohnte Gebäude funktioniert zugleich als Materialspeicher für die Zukunft.
Im Kreislauf zu bauen dreht sich zunächst wenig um konkrete Materialfragen. «Es beruht fast nur auf guter Planung», erklärt Marchesi. Zur Planung gehört zum Beispiel eine Gebäudestruktur, die nicht auf eine bestimmte Nutzung fixiert ist. Das verlängert die Lebensdauer jedes Gebäudes, weil es noch nach Jahren leicht umgenutzt werden kann. Bei der Bauweise wird auch an Reparaturen sowie den Abriss gedacht: «Leitungen einzugiessen, ist eine ganz schlechte Idee.»
Erst im letzten Schritt kommt die Materialwahl ins Spiel. Unterschieden wird nach Einsatzmöglichkeiten und Rezyklierbarkeit. Vieles kann wiederverwendet werden, wird also in derselben Funktion eingesetzt wie zuvor. Das gilt unter anderem für Fenster oder Leitungsrohre, Türen und selbst tragende Konstruktionsteile. Nur wenn das nicht gelingt, wird rezykliert. Materialien wie Aluminium und Glas lassen sich einschmelzen und als gleichwertige Rezyklate neu einsetzen. Alles, was nicht verwendet oder verwertet werden kann, sollte biologisch abbaubar sein. «Ein grosser Teil ist heute noch Downcycling», erklärt der Experte, also eine Abwertung des Materials. Ein Beispiel: «Werden Steine aus einem Abriss zerkleinert und als Strassenfüllung verwendet, ist das keine gleichwertige Lösung, sondern ein weiterer Schritt in Richtung Deponie.»
Kreislaufwirtschaft ist kein bisschen teurer
Sorgen um Mehrkosten brauche niemand zu haben, erläutert Marchesi: «In der Realität können mehr als 50 Prozent kreislaufgerechter Anteil kostenneutral und damit marktgerecht realisiert werden.» Das gilt tatsächlich für fast jeden Bau, der in der Schweiz entsteht, vom Einfamilienhaus über das Geschäftshaus bis zur Grossimmobilie. Bei der Umar-Einheit mit dem besonders hohen Anteil von 96 Prozent lagen die Mehrkosten nur bei 20 Prozent. Der Experte verbucht jeden Kreislaufanteil in einem Haus als Gewinn: «Jede schrittweise Verbesserung ist besser als alles, was zuvor gebaut wurde. Und das mit Mitteln, die jeder zur Verfügung hat.» In der Schweiz müssen noch einige Weichen gestellt werden, angefangen in den verschiedenen Ebenen der Politik. «Gleichzeitig müssen sich Baufirmen einbringen und die verschiedenen Bauherren für eine kreislaufgerechte Lösung entscheiden », sagt Marchesi. «Es ist wie bei Haushaltsgeräten eine aktive Entscheidung, ob man eine Waschmaschine wegwirft oder reparieren lässt.»
Der Anfang wäre schnell gemacht, betont der Fachmann mit Nachdruck: «Es braucht keine Investitionskosten, und für Materialien gibt es umfangreiche Datenbanken.» Hier werden Baumaterialien nicht «abgeschrieben », sondern für den nächsten Einsatz «aufgeschrieben »: «Kupfer verliert ja nicht an Wert, wenn es als Leitung verbaut wurde», sagt der Innovation Manager.
Kreislaufwirtschaft dient zugleich der Sicherung von Arbeitsplätzen im Handwerk. Davon hat ihn die Zusammenarbeit mit der Schreinerei überzeugt, die die Sprint-Einheit in Holzständerbauweise gebaut hat. Wer zum Beispiel Konstruktionsholz weiterverwendet, braucht handwerkliches Wissen und etwas Kreativität, weil man nicht immer pfannenfertige Elemente zur Verfügung hat. Auch andere Bereiche verbessern sich automatisch wie das Raumklima: «Kein Bauschaum, kein Kleber, keine Beschichtungen, keine Silikone», fasst Marchesi zusammen. «Da dünstet nichts aus.» Sind von Beginn an keine Schadstoffe dabei, gibt es auch beim Abriss keine Probleme.
Dass diese Form des Bauens längst hohe Akzeptanz geniesst, weiss Marchesi: «Bei jeder Führung am Nest kommt mindestens einmal der Satz ‹Ich würde ja, aber ich finde nichts›. Die Nachfrage ist da, wird aber zu wenig bedient», ist seine Erfahrung. Jene Firmen, die bereits kreislaufgerecht bauen, hätten volle Auftragsbücher und könnten auf einen Materialfundus zugreifen, der keine Wünsche offenlässt. Sorgen um längere Bauzeiten muss sich niemand machen, im Gegenteil: «Wir erwarten in der Bauwirtschaft durch die globale Vernetzung eher Materialknappheit bei Rohstoffen. Wer frühzeitig auf Re-Use-Material setzt, ist sogar im Vorteil.» Bettina Schnerr