Mit rund 4700 Mitarbeitenden vereint die Ostschweizer Textilindustrie fast ein Drittel aller branchenspezifischen Arbeitsplätze der Schweiz. Die Ostschweizer Textilindustrie positioniert sich vor allem international über innovative und hochwertige Produkte. Die Digitalisierung gilt als grosse Zeitenwende für die Branche, doch unter anderen Vorzeichen als vorangegangene Umwälzungen wie die Mechanisierung, sagt Antonio Gatti Balsarri: «Neu ist, dass nicht nur einfache Routinen betroffen sind, sondern auch komplexe Tätigkeiten hoch qualifizierter Mitarbeitender.» Gatti Balsarri verantwortet bei der Schoeller Textil AG in Sevelen Produktmanagement, Marketing und Vertrieb und hat in früheren Positionen viele Startups begleitet und Digitalisierungsprozesse mitgestaltet. Die Schoeller Textil AG stellt Funktionstextilien, Maschenware sowie Schutztextilien, zum Beispiel für Motorradfahrer oder die Polizei, her.
Umfassende Verknüpfung der Prozesskette
Was oft als Revolution begriffen wird, sieht der CCO als natürlichen Prozess: «Der für Digitalisierung oft benutzte Begriff ‹Industrie 4.0› veranschaulicht doch, dass immer wieder Umbrüche stattfinden. Darin steckt jeweils die Möglichkeit zu Verbesserungen. Vor allem das Management steht hier in der Verantwortung.» Das liegt zum einen am übergreifenden Charakter der Digitalisierung. Intern müssen Anlagen, Logistik und Verwaltung verknüpft werden. Zu Zulieferern und Vertriebspartnern werden geeignete Schnittstellen in Softwarelösungen geschaffen. Das gelingt nur durch den Gesamtzugriff auf alle Ebenen. Zum anderen muss Mut zum Neuen vorhanden sein. «Wer Strategien entwickelt und umsetzt, dem bietet die Umstellung Chancen», sagt der Digitalisierungsprofi. Dazu gehört neben den Themen Effizienz und Kosten auch die mögliche Entwicklung neuer Geschäftsfelder.
Die Digitalisierung bedeutet für KMU einen grossen finanziellen Aufwand. Die Gewichtung der Massnahmen orientiert sich an einem möglichst breiten Mehrwert. «Sinnvoll sind Anpassungen, von denen nicht nur das Unternehmen selbst etwas hat, sondern auch der Kunde.» Dazu wird eine vernetzte Wertschöpfungskette aufgebaut, das Kernelement der Digitalisierung. «Vernetzung heisst, miteinander zu arbeiten und Potenziale wie Service und Dienstleistung im Auge zu behalten. Das Zeitalter, in dem Unternehmen Abläufe hinter geschlossenen Türen abwickelten, sind vorbei. Transparenz wird zum Schlüssel für Wettbewerbsfähigkeit.» Für Firmen heisst das, die eigene Prozesskette genau zu kennen, um sie digital abbilden zu können. Noch arbeitet die Textilbranche mit vielen handwerklichen Schritten. Als Beispiel nennt Gatti Balsarri die Stoffkonstruktion, bei der die Fadenverläufe festgelegt werden. «Das geschieht noch mit Papiervorlagen, die erst digitalisiert und dann maschinenlesbar aufbereitet werden», sagt er. «Erledigt man das von Beginn an digital, beschleunigt das den Prozess durch den Wegfall von Zwischenschritten.»
Parallel müssen die Prozesse in der Aus- und Weiterbildung abgebildet werden. «Das gilt vor allem für Fachkräfte, die bereits seit mehreren Jahren im Beruf stehen», sagt er. «Handwerkliches Können und Verständnis bleiben gefragt, müssen aber digital umgesetzt werden.» In der Praxis heisst das zum Beispiel, dass Mitarbeitende trotz der Abstraktion durch Instrumente wie Graphic Tablets das Zusammenspiel von Material und Struktur verstehen und sie passend kombinieren müssen. Aber auch, dass Berufe mit einem grossen Anteil an Routinetätigkeiten wegfallen können. «Die Neuordnung ermöglicht aber neue Jobprofile mit einer Schnittstelle zwischen Technik, Handwerk und Kreativität, was die Textilberufe attraktiv hält», sagt Gatti Balsarri.
Innovationen statt Massenmarkt
Attraktiv ist die Textilbranche auch, weil sie keinen Massenmarkt bedient, sondern zu den Innovationstreibern zählt. Insofern unterstützt die Digitalisierung die Standortsicherung. Die Ostschweiz verfügt über eine gute technische Infrastruktur, um die Vernetzung wettbewerbsfähig aufzubauen und zu betreiben. «Die Region ist in einer guten Ausgangsposition und schnelles Handeln gewohnt, weil Anforderungen des Konsumentenmarkts an sie weitergegeben werden», sagt er.
Onlineshops machen für Zulieferer nur einen Teil der Präsentation aus. Doch verzichten sollte man nicht darauf. «Das haptische Erleben spielt bei Textilien eine grosse Rolle und lässt sich nicht ersetzen. Aber digitale Abläufe können Vorauswahl oder Verkauf unter anderem durch den Wegfall von Schritten beschleunigen und verbessern.» Bettina Schnerr
Digitalisierung in der Praxis
Seit Dezember 2021 wird bei der Schoeller Textil AG in Sevelen bei Datenverwaltung und Kommunikation vollständig cloudbasiert gearbeitet. Als organisatorischen Überbau erhält die Firma ein ERP-System, das ein über 30 Jahre altes Arbeitskonzept ablöst. Alle Daten und Arbeitsschritte werden auf einer Plattform rückverfolgbar hinterlegt. Die ERP-Lösung verknüpft die eigene Planung und Produktion mit Zulieferern und dem Kundengeschäft. Das System wird 2023 aktiviert. Es soll intern eine hohe Flexibilität, zum Beispiel bei Auftragsverschiebung, ermöglichen. (bsr)