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«11 von 17 noch ohne Anschlusslösung»

Während die meisten Drittklässler am OZ Grünau in Wittenbach wissen, was sie nach Abschluss der Oberstufe im Sommer machen, sind in einer Realschulklasse noch zwei Drittel ohne Anschlusslösung. Liegt es an Corona? Der Klassenlehrer gibt Auskunft.

«11 von 17 noch ohne Anschlusslösung»

Der Klassenlehrer der R3a ist überzeugt: «Alle meine Schülerinnen und Schüler werden noch eine Lehrstelle oder ein Praktikum finden und 2021 gut ins Berufsleben starten.» Bild: Adobe Stock

Seit März 2020 funkt das Coronavirus auch in die Berufswahl. Für diejenigen, die letzten Frühling in der zweiter Oberstufenklasse waren, hat sich der sonst eng getaktete Berufswahl-Lehrplan ausgedünnt. Themenspezifische Workshops, zum Beispiel vom Verein «Triebwerk», bei dem Lernende aus verschiedenen Berufen und Berufsbildner in die Schule kommen und den Jugendlichen Rede und Antwort stehen, fielen weg. Auch die Schnupperwoche im Frühling war für die heutigen Drittklässler nicht möglich. Stattdessen hiess es auch für sie, wie für alle anderen im Frühling 2020: Ab ins Homeschooling. «Die Lehrstellensuche gestaltete sich dadurch für viele schwieriger», sagt Fabio Canonica vom Berufsinformationszentrum BIZ in St. Gallen. Würde der Schulbetrieb aktuell wieder auf Homeschooling umgestellt, könnten seiner Meinung nach einige Jugendlichen nach Abschluss der Oberstufe tatsächlich zwischen Bank und Stuhl fallen. «Doch solange der Schulbetrieb weiterläuft, bin ich zuversichtlich. Es gibt noch genügend freie Lehrstellen und auch Brückenangebote, aber vor allem gibt es viele engagierte Lehrpersonen, mit deren Hilfe noch einige Jugendliche eine gute Anschlusslösung finden werden», davon ist der Berufsberater überzeugt.

Aussergewöhnlich hohe Zahl

Eine dieser engagierten Lehrpersonen ist Juan Carlos Martinez, Klassenlehrer der Realschulklasse R3a am OZ Grünau in Wittenbach. «In meiner Klasse sind aktuell noch 11 von 17 Schülerinnen und Schüler ohne Anschlusslösung», sagt Juan Carlos Martinez. Und das entspreche so gar nicht seiner 16-jährigen Erfahrung als Oberstufenlehrer. «Corona ist ein zusätzlicher Faktor, aber nicht der einzige», sagt der 46-Jährige. Seine Realschulklasse hatte mehrere Lehrerwechsel, bevor er sie letzten Sommer übernommen hat.

«Während der Sekundarschüler oft leistungsorientiert ist, sucht der Realschüler eher eine Bezugsperson », weiss er. Herausfordernde persönliche und schwierige familiäre Situationen spielen bei schulisch schwächeren Schülerinnen und Schülern oft eine zentrale Rolle. «Sie erhalten zu Hause meist sehr wenig bis gar keine Hilfe, manche müssen unschöne Trennungen, Schmerz, Verbitterung erleben. Da haben Schule und Berufswahl oft nicht die Priorität, die sie haben sollten », sagt Juan Carlos Martinez.

Dazu komme die fehlende Reife: «Mit 14 Jahren sind viele noch zu jung, um sich mit der Berufswahl zu beschäftigen, um Verantwortung zu übernehmen, manche sind auch überbehütet oder es fehlt ihnen an Selbstsicherheit. » Die Folge sind fehlende Motivation, fehlende Strukturen, fehlende Organisation. «Es braucht viel Geduld und Beharrlichkeit, um diese Jugendlichen auf Erfolgskurs zu bringen», sagt der gebürtige Spanier. «Immer wieder mache ich Einzelsettings, frage nach, mache vor, setzte Ziele und baue so langsam Vertrauen und in der Folge Selbstvertrauen auf», erzählt er. Wenn ein Schüler oder gleich mehrere Hilfe und Coaching bräuchten, sei das für ihn herausfordernd und motivierend zugleich.

Mädchen haben weniger Berufe zur Auswahl

«Die Chancen bei der Berufswahl sind auch aus der Real absolut intakt», sagt Juan Carlos Martinez. Grundsätzlich werden mehr handwerkliche Berufe gewählt, aber es gebe auch Sekundarschüler, die sich für ein Handwerk entscheiden. «Mädchen dagegen haben aus der Real nicht so viele Berufe zur Auswahl», sagt er, der selbst Vater zweier Mädchen ist. «Andererseits wählt man heute nicht mehr den Beruf fürs Leben, unser Schulsystem ermöglicht auch spätere Berufswechsel», sagt der gelernte Bankfachmann, der erst auf dem zweiten Bildungsweg seine Berufung als Oberstufenlehrer entdeckte. Die Mehrheit setze sich in der zweiten Oberstufe ein Ziel, das bei einem realistischen Berufswunsch meistens auch erreicht werde. Einen A- und einen B-, idealerweise auch einen C-Beruf zu haben, sei wichtig, um für Alternativen offen zu bleiben. Bei der Berufswahl werden die Jugendlichen in erster Linie von den Familienmitgliedern beeinflusst. Ebenfalls eine Rolle spielen würde, was Freunde machen und was aktuell Trend ist. An dritter Stelle kommen Berufsberatung und Lehrpersonen. «Ganz wichtig ist, dass die Jugendlichen während der zweiten Oberstufenklasse in verschiedenen Berufen schnuppern können, dass sie offen und flexibel für alternative Berufe bleiben und natürlich, dass sie nicht aufgeben.» Denn Juan Carlos Martinez weiss: «Entscheidend ist die Motivation.» Suzana Cubranovic

Die meistgewählten Lehrberufe 2020 der schulisch Schwächeren

Kanton Appenzell Ausserrhoden (nach EBA-Berufen):
1. Assistent/-in Gesundheit und Soziales EBA
2. Detailhandelsassistent/-in EBA
3. Hauswirtschaftspraktiker/-in EBA

Quelle: Kantonskanzlei Appenzell Ausserrhoden

Kanton Thurgau (nach EBA-Berufen):
1. Detailhandelsassistent/-in EBA
2. Logistiker/-in EBA
3. Assistent/-in Gesundheit und Soziales EBA

Quelle: Amt für Berufsbildung und Berufsberatung des Kantons Thurgau

Kanton St. Gallen (aus der Realschule):
1. Detailhandelsfachmann/-frau EFZ
2. Fachmann/-frau Gesundheit EFZ
3. Polymechaniker/-in EFZ

Quelle: Bildungsdepartement des Kantons St. Gallen; aufbereitet und berechnet von der Fachstelle für Statistik des Kantons St. Gallen

Aufgrund der unterschiedlichen Oberstufensysteme sind die kantonalen Top 3 nicht 1:1 vergleichbar. In den Kantonen Thurgau und Appenzell Ausserrhoden, wo keine Einteilung in Sekundar- und Realschule erfolgt, sind die beliebtesten beruflichen Grundbildungen mit eidg. Berufsattest (EBA) aufgeführt.
  

Person

«11 von 17 noch ohne Anschlusslösung»-2

Juan Carlos Martinez, 46, absolvierte erst eine Banklehre und holte die Zweitwegmatura nach, bevor er sich vor 20 Jahren an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen zum Oberstufenlehrer ausbilden liess. Er lebt mit seiner Familie in Arbon TG. (scu)